Martin Rümke

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Medizintechnik heute
– ein Blick über den Tellerrand

Die Medizintechnik bildet die Brücke zwischen Patient und Arzt und es stellt sich die Frage, ob die „ärztliche Kunst“ ohne Medizinprodukte noch möglich wäre? Nicht ohne Grund ist der Markt für Medizinprodukte einer der meistregulierten Märkte.

In Europa müssen Medizinprodukte eine CE-Kennzeichnung tragen um verkehrsfähig zu sein. Das CE-Zeichen lässt sich ohne weiteres als Qualitätsmerkmal interpretieren. So berücksichtigt das Medizinprodukterecht neben dem Patienten und dem Anwender auch den Schutz Dritter, wie etwa des nicht-medizinischen Personals. Mit der Umsetzung der europäischen Medizinprodukte-Richtlinien in das deutsche Medizinproduktegesetz (MPG) wurde unter anderem die Verantwortung des erstmaligen Inverkehrbringens dem Hersteller übertragen. Behörden haben nur noch Aufgaben zur Marktüberwachung und sind bei Produktentwicklung sowie Produktion außen vor. Ein Hersteller handelt in alleiniger Verantwortung.

Die Zertifizierung

Um sicherzustellen dass die gesetzlichen Forderungen systematisch erfüllt sind, unterhalten Hersteller von Medizinprodukten ein Qualitätssicherungssystem. Dieses Qualitätssicherungssystem ist in Abhängigkeit des Produkts und gegebenenfalls der Produktklassifizierung von einer unabhängigen „Benannten Stelle“ zu genehmigen. Diese Einbeziehung ist häufig Grund von Kritik und wird mit dem Zulassungssystem von Arzneimitteln verglichen; dieses sei ja sicherer, da die Zulassung oft durch eine nationale Behörde unter staatlicher Hoheit erfolge. Vergessen werden hier die wirtschaftlichen Aspekte.

Ein mit CE gekennzeichnetes Medizinprodukt darf in allen Mitgliedstaaten des europäischen Wirtschaftraums in den Verkehr gebracht werden. Von daher lohnt es sich für den Hersteller, auch aufwendige Medizinprodukte zu entwickeln und herzustellen, die für Patienten wichtig – wenn nicht sogar lebensrettend – sind, aber auf dem nationalen Markt nicht wirtschaftlich wären.

Nicht zu vernachlässigen sind auch die damit verbundenen Anforderungen, die der Hersteller nachweislich erfüllen muss, um die Sicherheit, Funktions- und Leistungsfähigkeit seiner Produkte zu belegen. Vergessen wird mitunter, dass das Arzneimittelrecht schon mehrmals die Schädigung von Patienten nicht verhindern konnte, zum Beispiel eine Pille, die schlank machen sollte. Doch dann geriet diese Pille in den Verdacht, bei Patienten Herzschäden auszulösen.

Was heute gut ist, muss morgen nicht auch gut sein

Mit der Forderung, den Stand der Technik widerzuspiegeln und ihm Folge zu leisten, haben die europäischen Rechtsprechungen dem Hersteller eine umfassende Aufgabe aufgebürdet. „Die in den Anhängen festgelegten grundlegenden Anforderungen und sonstigen Anforderungen, einschließlich der Hinweise auf Minimierung oder Verringerung der Gefahren, sind so zu interpretieren und anzuwenden, dass dem Stand der Technik und der Praxis zum Zeitpunkt der Konzeption […] Rechnung getragen wird, die mit einem hohen Maß des Schutzes von Gesundheit und Sicherheit zu vereinbaren sind.“

Was auf den ersten Blick sehr banal und als Selbstverständlichkeit wirkt, hat es in sich. So sieht sich die Medizintechnik immer wieder Veränderungen ausgesetzt, die hohe Flexibilität und Durchhaltevermögen verlangen. Da sind zum einen die regulativen Veränderungen auf europäischer oder nationaler Ebene. Oder die Revisionen der angewandten harmonisierten Normen, welche alle fünf Jahre einer turnusmäßigen Überprüfung unterzogen werden. Und zum anderen die Forderung, sowohl die Ergebnisse aus der auf die Herstellung folgenden Phase, als auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse oder Änderungen beim Stand der Technik mit Hilfe des Risikomanagements auf Relevanz für die eigenen Medizinprodukte zu prüfen.

Normen spielen in der Medizintechnik generell eine wesentliche Rolle. Deren Anwendung ist zwar freiwillig, jedoch profitiert der Hersteller bei deren Einhaltung von der gesetzlichen Konformitätsvermutung seiner Produkte.

„Die Mitgliedstaaten gehen von der Einhaltung der grundlegenden Anforderungen […] bei Produkten aus, die den einschlägigen nationalen Normen zur Durchführung der harmonisierten Normen […] entsprechen […].“ Bei neuen oder revisionierten Normen ist zunächst die Anwendbarkeit auf das Produktportfolio zu prüfen. Bei Anwendbarkeit ist die inhaltliche Umsetzung festzulegen. Dabei ist zu beachten, dass die Entscheidung einen direkten Einfluss auf das Marketing- und Vertriebskonzept hat. Neue Norm-Forderungen unterliegen in der Regel Übergangsfristen, die vorsehen, dass ab einem bestimmten Datum keine Produkte gemäß der „alten“ Norm weiter in Verkehr gebracht werden dürfen. Von den zuständigen Behörden wird eine fehlende Neubewertung nach Ablauf der Übergangsfrist oder auch die mangelnde Kenntnis/Verfügbarkeit neuer harmonisierter Normen beziehungsweise einschlägiger wissenschaftlicher Erkenntnisse als „wesentliche Nichtkonformität“ interpretiert.

Werden diese Nichtkonformitäten nicht adäquat abgestellt, so sind die Zertifikate für das „genehmigte“ Qualitätssicherungssystem durch die „Benannte Stelle“ auszusetzen, beziehungsweise zurückzuziehen. Um diese Konformitätsvermutung jederzeit aufrecht zu erhalten, benötigt also ein Hersteller ein zentrales System mit diversen Schnittstellen zu anderen Unternehmensprozessen. Wahrscheinlich wird derzeit dieses System bei Herstellern von Brustimplantaten auf Hochtouren laufen. Vorkommnisse wie die aktuellen mit dem Hersteller Poly Implant Prosthesis (PIP) gelten als neue Erkenntnis und müssen entsprechend einfließen. Vermutlich werden wohl auch die Silikonlieferanten sowie die Labormethoden zur Qualitätsbestimmung der Silikone bei den Herstellern von Brustimplantaten auf dem Prüfstand stehen.

Vielseitig und ausgereift

Die Anforderungen an ein Qualitätssicherungssystem für Medizintechnik sind vielseitig und werden häufig aus „ausgereiften“ Systemen importiert. Viele Ansätze kommen aus dem GMP (Good Manufacturing Practice) der Arzneimittelherstellung oder der Automotive-Industrie. Für einen Hersteller von Medizinprodukten empfiehlt sich somit der „Blick über den Tellerrand“. Warum das Rad neu erfinden, wenn Philosophie und „Best Practices“ einzelner Prozesse bereits bekannt sind!

Beispielhaft lässt sich dies an der Beschaffung aufzeigen. In der Startphase der heutigen Rechtsprechung über Medizinprodukte musste ein Hersteller ein Verfahren zur Freigabe von Lieferanten haben – häufig eine Liste, welche von der Geschäftsführung per Unterschrift „freigegeben“ wurde. Dann wurde es notwendig, seine Lieferanten anhand von Fakten zu beurteilen. Im nächsten Schritt waren Qualitätssicherungsvereinbarungen unabdingbar. Und heute? Ein Blick zu den Ursprüngen der Lieferantenbewertung, das heutige Lieferantenmanagement der Automotive-Branche, würde helfen!

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