Georg Dlugosch

IndustryArena eMagazine

Kontaktdaten

Industrie 4.0

Industrie 4.0 als Stütze
für den Großanlagenbau

Der Großanlagenbau setzt seine Hoffnung auf den Umbruch: Die vierte industrielle Revolution soll Abhilfe schaffen, denn der Großanlagenbau steht massiv unter Druck. Die Wettbewerbssituation verschärft sich und zwingt die Branche zu reagieren. Vor allem Schritte zur Kostensenkung sind neben dem Ausbau der internationalen Präsenz und der Erweiterung der Dienstleistungsangebote branchenweite Strategien. Allerdings fühlt sich der Großteil der Branche auf die Industrie 4.0 nicht gut vorbereitet.

„Im Einsatz von Industrie-4.0-Technologien sieht der Großanlagenbau einen wichtigen Hebel, um die Effizienz der Prozesse zu steigern“, sagt Dr. Rainer Hauenschild. Der Sprecher der VDMA-Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau (AGAB) und Chief Executive Officer (CEO) Energy Solutions der Siemens AG erwartet einen „tiefen Umbruch“, der auf die Unternehmen der Branche zukommt: Es werden „sehr starke Veränderungen“ sein. Deshalb erscheint die Notwendigkeit besonders hoch, sich auf Industrie 4.0 vorzubereiten. Denn das Thema wird alle betreffen, betont Hauenschild. Allerdings habe sich die Prozessindustrie bisher eher zurückgehalten, das Thema Industrie 4.0 anzupacken.

Die Gemeinschaftsstudie „Industrie 4.0 im Industrie- und Anlagenbau – Revolution oder Evolution“ von AGAB und dem Düsseldorfer Beratungsunternehmen maexpartners, die jetzt vorgestellt wurde, „ist für den Großanlagenbau aussagekräftig“, erklärt VDMA-Referent Klaus Gottwald. Auch wenn die Branche noch wenig darüber spricht, „so beschäftigt sich immerhin schon jedes zweite Unternehmen intensiv damit.“ Die Studie „soll den Stein stärker ins Rollen bringen“, ergänzt er. Der VDMA will „das Bewusstsein wecken, um die Unternehmen zu aktivieren.“ Aus dem Kreis der 120 befragten Unternehmen haben 43 an der Studie teilgenommen. Neben dem Großanlagenbau (Projektvolumen ab 25 Millionen Euro) wurden auch der Industrieanlagenbau (Projektvolumen bis 25 Millionen Euro) und Anlagenbetreiber gefragt.

Die Mitgliedsfirmen der Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau (AGAB) im VDMA verbuchten 2014 in Deutschland Bestellungen in Höhe von 19,6 Milliarden Euro, sieben Prozent weniger als im Vorjahr. Nahezu jedes Unternehmen spürt den Wettbewerbsdruck, der aus Asien, vor allem aus China und Südkorea sowie aus den USA kommt. Für 2016 erwarten nach der jüngsten AGAB-Konjunkturumfrage immerhin 40 Prozent der Teilnehmer einen steigenden Auftragseingang.

Die Verfasser der Studie warnen davor, das Risiko für den Anlagenbau zu unterschätzen, berichtet Dr. Sven Haverkamp, Senior-Manager bei maexpartners, „weil das Ausmaß der Entwicklung unter Umständen falsch eingeschätzt wird.“ Zwei Drittel der Befragten hoffen in den kommenden fünf Jahren auf spürbare Kostensenkungen durch den Einsatz von Industrie-4.0-Technologien im Engineering.“ Noch höher sei das Potenzial im Logistik- und Baustellenmanagement, wo sich jeweils 90 Prozent der Befragten eine größere Effizienz erhoffen. Auf der Baustelle zeige sich der Nutzen von Industrie 4.0 konkret in verbesserten Steuerungsmöglichkeiten und einer genaueren Dokumentation des Ist-Zustands. Haverkamp: „Mit einer echtzeitnahen Statusermittlung können Anlagenbauer auf Baustellenstörungen unverzüglich reagieren oder sie im Idealfall sogar ganz vermeiden. Dadurch wird die Termintreue deutlich steigen.“

Trotz aller Risiken bietet Industrie 4.0 dem Großanlagenbau erhebliches Potenzial zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, heißt es in der Studie. Die Arbeitsweise im Anlagenbau wird sich massiv verändern, beispielsweise im Engineering und durch Nutzung von Big Data sowie in der Zusammenarbeit zwischen Kunden und Lieferanten. Der Datenaustausch zwischen Anlagenbauern, Lieferanten und Betreibern wird sich deutlich intensivieren. Damit werden neben der Datensicherheit auch Haftungsfragen sowie die Frage der Eigentums- und Nutzungsrechte an den Daten in den Blickpunkt rücken. Für die explodierenden Datenflüsse sind neue Sicherheitskonzepte zu entwickeln.

Ferner wird die digitale Integration der Lieferanten nach Ansicht der Befragten weiter voranschreiten. Aus der Sicht der Studienteilnehmer wird die Mehrheit der globalen Lieferanten bis 2020 für eine digitale Zusammenarbeit jedoch noch nicht ausreichend qualifiziert sein. Dies könnte ein Wettbewerbsvorteil für Zulieferer aus Industrieländern werden, die mit ihrer technologischen Vorreiterrolle besser auf die anstehenden Veränderungen eingestellt sind als Lieferanten aus Schwellenländern.

Fünf Fragen an

Dr. Markus Reifferscheid,
Leiter Zentralbereich Entwicklung bei der SMS group GmbH in Düsseldorf

Hat der Großanlagenbau die Bedeutung der vierten industriellen Revolution erkannt?

Reifferscheid: Das Thema ist in der traditionell geprägten Branche aufgeschlagen. Anbieter und Kunden befinden sich in einer Orientierungsphase. Erste, inhaltlich überschaubare Pilotprojekte sind abgeschlossen, weitere sind in Planung oder Umsetzung. Ein Risiko sehe ich vor allem für jene Unternehmen, die sich gar nicht damit befassen.

Wie bereitet sich SMS auf Industrie 4.0 vor?

Reifferscheid: Wir erarbeiten die Thematik in einem speziell dafür gegründeten Team mit Unterstützung durch einen externen Partner. Der Prozess steht im Fokus der Unternehmensleitung, denn die mit der Digitalisierung einhergehenden Veränderungen werden das zukünftige Unternehmen SMS maßgeblich prägen. Es gilt sich intensiv mit diesem facettenreichen Feld auseinanderzusetzen. Wir sehen u. a. großes Potential im Ausbau des Servicebereiches. Digitale Lösungen bilden die zukünftige Basis einer engen und direkten Kundenbeziehung.

Welche Auswirkungen hat die industrielle Revolution auf die Geschäftsprozesse?

Reifferscheid: Die Geschäftsprozesse ändern sich durch die neuen Möglichkeiten innerhalb der Digitalisierung. Geschwindigkeit wird neben der Verlässlichkeit zunehmend ein Hauptfaktor. Anlagenhersteller haben den Vorteil, dass sie eine enge Beziehung zu ihren Kunden haben. Diesen Vorteil gilt es zu wahren, bevor sich neue digitale Marktteilnehmer etablieren. Die Entwicklung digitaler Lösungen muss allerdings für alle Parteien von Vorteil sein. Erkennt der Kunde den Mehrwert, ist er auch bereit dafür Geld zu bezahlen.

Welche Veränderungen erkennen Sie jetzt schon?

Reifferscheid: Wir als SMS group befassen uns schon seit längerer Zeit mit dem Thema - nicht erst, seit es den Begriff Industrie 4.0 gibt. Mit großen Datenmengen gehen wir seit Jahrzehnten um. Moderne Analysensysteme werten selbst komplexe Datenbestände (Big Data) mittlerweile so schnell aus, dass sich diese digital in die Prozesssteuerung und Prozessabläufe innerhalb eines Werks zurückführen lassen. Schon heute können Bestell- und Abrechnungsvorgänge vollständig digital und somit weitestgehend autonom abgewickelt werden.
Die Analysesysteme müssen dazu ertüchtigt werden, selbstständig zu lernen und die Prozesse sicher auch bei Abweichungen zu steuern. Die Vorbehalte und Bedenken, dass der Prozess sich selbst überlassen wird, gilt es Schritt für Schritt zu überwinden. Wichtig ist ein Wandel im Denken, einen Weg, den wir gemeinsam mit unseren Kunden gehen wollen.
Unsere Engineeringprozesse unterliegen schon seit Jahrzehnten einem digitalen Wandel. Es entstehen „digitale, funktionale Zwillinge“, die prinzipiell eine Anlage oder einen Funktionsablauf innerhalb der komplexen Prozesskette virtuell abbilden können.

Einige Experten erwarten, dass es Jahrzehnte dauert, bis die vierte industrielle Revolution in vollem Gang ist. Wie viel Zeit bleibt der Branche Ihrer Ansicht nach?

Reifferscheid: Der Anlagenbau hat wohl lediglich fünf bis acht Jahre Zeit. In dieser Periode müssen wir lernen, industrielle Informationstechnologie (IT) zu entwickeln, sonst laufen wir Gefahr, dass andere Prozessbeteiligte wie IT-Firmen den Anlagenbau und -betrieb maßgeblich bestimmen.

Die Fragen stellte Georg Dlugosch, Fachjournalist.

Kontakt

Georg Dlugosch

Chefredakteur
IndustryArena eMagazine
Oberndorf am Neckar
Tel. +49 7423 8499477
E-Mail senden
www.dlugosch.org

agab.vdma.org