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Resiliente Produktion nach Corona

In Krisenzeiten fahren manche Unternehmen ihre Produktion herunter oder stellen sie sogar ganz ein. Die Pandemie hat den Blick verändert: Plötzlich steht nicht mehr die eigene Produktion im Vordergrund, sondern auch die Lieferkette muss als Produktion anderer Unternehmen berücksichtigt werden. Plötzlich ist nicht nur die Umstellung auf Corona-Krisenzeiten das große Thema, berichtet Dr. Tobias Heinen, Geschäftsführer und Mitgründer von Grean GmbH, einer Ausgründung des Instituts für Fabrikanlagen und Logistik der Leibniz-Universität Hannover (IFA).

„Die Unternehmer beschäftigt vermehrt die Frage, wie sie die Produktion wieder hochfahren können“, erklärt Heinen. Das dürfte seiner Ansicht nach sehr viel schwieriger werden als das Herunterfahren. Er rät dazu, dass Unternehmen krisenfest gemacht werden müssen.

„Da die meisten Unternehmen ihr Netzwerk kosteneffizient gestaltet und daher kaum Bestände gelagert haben, reagieren die Wertschöpfungsketten extrem auf Störungen“, warnt Prof. Peter Nyhuis, Mitglied des WGP-Präsidiums und Leiter des IFA Hannover. „Viele Produktionsschritte wurden ausgelagert, so dass Abhängigkeiten noch komplexer wurden. Produzierende Firmen müssen jetzt ihre Wertschöpfungsketten überdenken und in eine weniger kosten- und mehr leistungsorientierte Produktionsplanung und -steuerung überführen.“

Noch steckt die Industrie mitten in der Krise, doch die Rückkehr zur vorläufigen Normalität steht bevor. Nach Gesprächen mit vielen Unternehmen schätzt Heinen, dass die Mehrheit mit einem Hochlaufen in etwa neun Monaten rechnet. Dann wird vieles nicht mehr so sein, wie es vor Corona war.

Denn bislang hatte der Mittelstand ein recht stabiles Umfeld, konkretisiert Nyhuis. Produktportfolio, Lieferanten- und Kundenstruktur sind trotz Marktveränderungen im Wesentlichen erhalten geblieben. Dieses Mal ist es anders. „Die Situation hat sich für Unternehmen komplett verändert, Märkte und Kunden sind weggebrochen. Daher müssen die Firmen dringend die Zeit nutzen, um ihre Produktion resilienter gegenüber künftigen Krisen zu machen.“ Resilienz beschreibt die Fähigkeit, trotz extremer externer Schocks effizient zu bleiben. Das betrifft nicht nur die Nachfrage, sondern auch die Versorgungsseite, wenn etwa Lieferketten zusammenbrechen.

Unternehmen sollten beispielsweise ihre Lagerbestände überprüfen, rät Heinen. „Bestände sind zwar gebundenes Geld und mit einer Verkleinerung des Lagers lassen sich Kosten reduzieren.“ Es müsse jedoch Sorge getragen werden, die eigene Lieferfähigkeit nicht zu gefährden. „Der Lagerbestand sollte ein ausgewogenes Verhältnis zwischen logistischer Sinnhaftigkeit und wirtschaftlicher Tragfähigkeit widerspiegeln.“

Unternehmen kommen ins Gespräch

Noch seien die Lagerbestände für Bauteile bei vielen Unternehmen nicht aufgebraucht, die Lieferketten selten unterbrochen. „Es ist nur eine Frage von Wochen, bis es soweit kommt“, ist sich Heinen sicher. Das Positive an der Krise: Unternehmer öffnen sich derzeit für Gespräche und Diskussionsrunden untereinander. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Firmen ad-hoc dynamischer werden und beispielsweise in großer Offenheit miteinander sprechen. Vor wenigen Wochen habe ich das noch nicht erlebt.“

Der Produktionsoptimierer moderiert Gesprächskreise von Unternehmen und fasst die Ergebnisse in Blogs zusammen. So werden beispielsweise Tipps zu aktuellen Problemen ausgetauscht. Ein Klassiker: Wie schafft man es, trotz begrenzter Kapazitäten durch Kurzarbeit logistische Zielgrößen wie eine hohe Termintreue oder eine kurze Durchlaufzeit einzelner Aufträge stabil zu halten oder sogar zu verbessern?

Der Austausch untereinander und das Lernen voneinander, etwa durch Best-Practice-Beispiele, ist wichtig in Krisenzeiten, aber mit Reden allein ist es nicht getan. Produzierende Firmen müssen derzeit ihre Lieferketten und Logistikstrukturen neu bewerten. „Es ist enorm wichtig, eine Balance zu schaffen zwischen wirtschaftlicher und resilienter, also sicherer Produktion“, betont Nyhuis, „doch vielen ist nicht klar, wie sie die Risiken beurteilen können.“

Die richtigen Fragen stellen

Um Wertschöpfungsketten auf ihre Resilienz hin neu zu bewerten, müssen sich Unternehmen zunächst einmal selbst Fragen stellen wie: Was wollen wir im eigenen Unternehmen herstellen, was geben wir bei Partnern in Auftrag? Welche Bauteile sollten wir trotz höherer Bestandskosten auf Lager haben, um im Krisenfall schnell den Schalter umlegen zu können? Können Produktionsschritte wieder ins eigene Haus zurückgeholt werden?

Auch die Frage, ob sich Firmen vermehrt Lieferanten etwa im gemeinsamen Rechtsraum der EU suchen sollten, ist für Heinen wichtig. „Es kann durchaus Komplikationen geben, wenn die Rechtskraft eingeschränkt ist und Geschäfte im Zweifel auch noch mit unterschiedlichen Mentalitäten angegangen werden.“ Nicht zuletzt kann auch eine örtliche Nähe von Bedeutung sein, um den Lieferanten bei Bedarf kurzfristig aufzusuchen.

„Die Entscheidung, die Prozesse vor allem kostenorientiert zu organisieren, muss zumindest in Teilen wieder rückgängig gemacht werden, um künftig unbeschadet durch Krisen zu kommen.“ – Dr. Tobias Heinen, Geschäftsführer und Mitgründer von Grean GmbH

Neue Strukturen abbilden

Die Umstellung auf eine resiliente, nachhaltige Produktion mit ihren neuen Strukturen sollte zudem in der Produktionsplanung und -steuerung (PPS) des Unternehmens abgebildet werden. „PPS kann ein wichtiger Hebel sein, um sicherere Prozesse aufzubauen“, weiß Nyhuis, „und entsprechende Software gibt es zuhauf. Sie ist sehr leistungsfähig, allerdings ist sie auch sehr komplex. Es gab schon vor der Krise Unsicherheiten im Umgang mit dieser Technik. Das hat sich mit der Pandemie verstärkt.“

Diese Unsicherheiten hat eine aktuelle WGP-Studie aufgedeckt, die gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Gießerei-, Composite- und Verarbeitungstechnik (IGCV) aus Augsburg die aktuellen Entwicklungen in der PPS bei Unternehmen unterschiedlicher Branchen untersucht hat. „Es liegt sehr großes Potenzial in der PPS für die Konkurrenz- und Zukunftsfähigkeit des Mittelstands. Daher ist es umso wichtiger, sich im Zweifel auch externe Expertise einzuholen“, betont Nyhuis.

Zumal mit dem Ende der Corona-Krise sicher nicht alles überstanden ist. Es gibt bereits Warnungen vor der nächsten Krise, sei es durch den Klimawandel oder Unsicherheiten des Finanzsystems.

Die Produktionsplaner sind sich denn auch einig in der Beurteilung der aktuellen Lage: „Wir gehen derzeit durch ein Tal der Tränen. Es ist eine bittersüße Situation insofern als nun die Zeit ist, um Hausaufgaben nachzuholen, die in der Boomphase liegengeblieben sind“, meint Heinen. Und Nyhuis mahnt: „Nachhaltige Umstrukturierung und Agilisierung sind das Gebot der Stunde.“

Podcast. Foto: Digitalagentur Niedersachsen

Podcast

In der Podcast-Folge „Virusfeste Fabriken und Lieferketten“ beschäftigt sich die Digitalagentur Niedersachsen mit der Frage, wie Fabriken krisenfest gemacht werden können. Gemeinsam mit dem Gesprächspartner Dr. Tobias Heinen, CEO von Grean, begibt sich Christian Wagener, Themenmanager für digitale Produktion und Industrie 4.0 bei der Digitalagentur Niedersachsen, auf die Suche nach guten Beispielen und diskutiert über die virustaugliche Fabrik von Morgen. Hier können Sie den Podcast anhören.

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