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Additive Fertigung schafft Mehrwert

Die großen Erwartungen an den 3D-Druck sind einer gewissen Nüchternheit gewichen. Dennoch besteht Zufriedenheit mit der Entwicklung, wie Dr. Karsten Heuser, Vice President für Additive Manufacturing bei Siemens Digital Industries, im Interview mit dem IndustryArena eMagazine erklärt. Additive Fertigung (Additive Manufacturing, AM) spart Ressourcen und schafft Mehrwert. Immer mehr Applikationen überschreiten die Schwelle von der Kleinserie zu zertifizierten Serienbauteilen. Heuser ist auch im Messebeirat der Formnext, die vom 16. bis 19. November in Frankfurt stattfindet. Das Gespräch führte Chefredakteur Georg Dlugosch.

Wie groß waren die Erwartungen an die Entwicklung der additiven Fertigung?

Heuser: Siemens ist seit vielen Jahren in diesem Markt aktiv. In den ersten Jahren dachte man, dass der Transfer von Prototypen zur Serienfertigung schneller vorangeht. Die Zeit zur Umsetzung in den Anwendungen hat sich etwas hingezogen. Ein Grund sind Zertifizierungsprozesse beispielsweise in der Luftfahrt oder im Energiesektor mit vielen Testserien. Hier musste etwa der gesamte Prozess vom Pulver über die Maschine bis zur Funktion in der Anwendung entwickelt, qualifiziert, intensiv getestet und dann zertifiziert werden. Jetzt zeigt sich, dass immer mehr Applikationen diese Schwelle von der Kleinserie zu den zertifizierten Teilen überschreiten. Ein Trend zu mehr Applikationen lässt sich auch am Patentmarkt erkennen. Anmeldungen für Anwendungen werden immer häufiger. Und auch die Anzahl von Start-ups, die mit neuen Applikationen den Markt erobern wollen, nimmt immer mehr zu. Früher wurde hauptsächlich über die Weiterentwicklung der Technologie, eine neue Maschine oder neues Material diskutiert. Jetzt wandelt sich das Erscheinungsbild sehr stark in die Richtung von Applikationen, die in der jeweiligen Industrie Mehrwerte bringen. Auch bei Siemens gibt es immer mehr Anwendungen. Im größeren Siemens Öko-System mit Healthineers, Energy und den Siemens Bereichen Mobility, Smart Infrastruktur und Digital Industries werden von den vorhandenen über 230 Druckern zunehmend mehr Produkte hergestellt.

Was bestimmt die aktuelle Entwicklung?

Heuser: Der Trend in Richtung Nachhaltigkeit ist ein großer Treiber, denn die additive Fertigung spart Ressourcen und schafft gleichzeitig Mehrwert. Das zeigen bereits eine Reihe von industriellen Anwendungen. Beispielsweise haben wir während der EMO-Messe in Mailand zusammen mit Chiron das Reparieren von Getrieben gezeigt. Chiron hat eine Maschine entwickelt, die durch eine Robotereinheit Metall beispielsweise für die Reparatur von Getrieben in der Windenergie additiv auftragen und dann mit einer zweiten Maschine zerspanend nachbearbeiten kann. Dadurch werden 60 bis 80 Prozent der Energiekosten gegenüber der Fertigung eines neuen Zahnrads eingespart. Ein zweites Beispiel ist die Reparatur von Schaufeln für Gasturbinen. Nach dem Verschleiß werden nur die obersten drei Millimeter abgetragen. Mit einem vollautomatischen Designprozess können dann Spitzen mit verbesserten Eigenschaften für jedes einzelne Bauteil erzeugt werden. In einem speziellen AM-Laser-Pulver-Prozess werden diese drei Millimeter neu aufgedruckt, um die reparierten Schaufeln mit besseren Eigenschaften weiter zu verwenden. Das spart nicht nur Material, sondern führt zu einer echten Wertschöpfung. Leichtbau durch bionische Strukturen beispielsweise in der Luftfahrt ist schon lange bekannt, heute zieht AM in weitere Industriebranchen ein, bei denen funktionsoptimierte Bauteile konstruiert werden können, die nur noch durch die additive Fertigung herstellbar sind.

Welche Hürden gibt es?

Heuser: Das Geschäftsmodell vieler Start-ups basiert auf einer innovativen Applikation mit 3D Druck. Vor etwa einem Jahr habe ich ein Start-up kennengelernt, die individualisierte Fahrradhelme anbieten. Mit einer App wird der Kopf eingescannt und dann vollautomatisiert ein Druckfile für den eigenen Fahrradhelm erstellt. Ähnliches geschieht aktuell bei passgenau gefertigten Brillen, wenn sie zum Optiker gehen. Nur, wenn es um die Serienfertigung geht, ist die Umsetzung nicht ganz einfach. Eine Hürde ist die Planung einer effizienten Produktionsumgebung, eine weitere der hohe Kapitalbedarf, um dann in großem Umfang 3D-Drucker sowie Equipment zur Nachbearbeitung zu kaufen. Genau da setzen zwei neue Angebote von uns an. Wir helfen, das Produkt des Start-ups kosteneffizient in ein Fertigungsszenario zu überführen und bei der Automatisierung und Steuerung der Fertigung zu helfen. Dazu planen wir Fabriken als digitale Zwillinge, um frühzeitig die besten Zielkosten zu erreichen, und können bei der Umsetzung auch eine Finanzierung der Maschinen durch maßgeschneiderte Lösungen anbieten. Dadurch lässt sich das Investitionsrisiko besser steuern.

Welchen Vorteil hat Siemens davon?

Heuser: Zunächst einmal haben die Start-ups einen Mehrwert davon. Unser mittelfristiger Vorteil liegt darin, dass wir daraus für unsere zukünftigen Produkte lernen. Bedeutet, dass in den Fabriken passgenaue Tools aus unserem Werkzeugkasten vermehrt zum Einsatz kommen. Damit sind unsere Lösungen dann verfügbar, wenn es in die Skalierung geht. Dafür investieren wir viel Zeit und betreiben auch eigene Maschinen in unserem Experience Center, um den Start-ups zu helfen.

Kommt die Qualitätssicherung voran?

Heuser: Die Qualitätssicherung ist sicherlich weiterhin eine große Herausforderung in der additiven Fertigung. Es gibt historisch gewachsene Insel- und Einzellösungen für einzelne Maschinentypen. Immer mehr Maschinen können mit zusätzlichen Sensoren zur Qualitätsüberwachung ausgestattet werden. Das können beispielsweise Wärmebildkameras oder Distanzsensoren sein. Einige unserer Kunden bauen erste Apps rund um ihre Maschinen, zunächst um die Prozesse erst mal zu beobachten und die daraus gewonnen Daten auszuwerten. Nehmen Sie das Beispiel von Bildern jeder einzelnen Schicht des Prozesses, alle tausende Bilder mit abertausenden Pixeln, in denen eine Art digitaler Fingerabdruck des Bauteils steckt. Mit dem Fraunhofer-Institut in Hamburg haben wir beispielsweise ein Qualitätsprojekt für das Laserauftragschweißen gestartet. Zusammen mit dem Maschinenbau, der Forschung sowie den Endanwendern aus der Luftfahrt werden aus solchen Daten Korrelationen abgeleitet. Diese ermöglichen einem Algorithmus zu entscheiden, ob gerade ein Fehler im Prozess passiert oder nicht. Das Ergebnis sind datenbasierende Qualitätsprozesse, die es heute in dieser Form in der Produktion noch nicht gibt. Letztlich hängt die Qualitätssicherung aber stark von der Applikation und der Technologie ab.

Wie sieht es aus mit dem digitalen Zwilling?

Heuser: Es kommt darauf an, welchen digitalen Zwilling Sie meinen. Diesen gibt es für das Produkt oder für den Prozess sowie die Fertigung. Wenn wir kurz bei der Qualitätssicherung bleiben, entsteht hier ein weiterer Zwilling, einer der Qualität beziehungsweise der Performance. Die Kunst besteht nun darin, die digitalen Zwillinge miteinander in Korrelation zu bringen, um den vollen Mehrwert zu heben. Gerade hier haben wir als Siemens einen großen Vorteil in der Durchgängigkeit unserer Lösungen. Stellen Sie sich vor, Sie können den digitalen Zwilling der Qualität, also den Fingerabdruck des gefertigten Bauteils aus der Maschine, automatisch mit dem digitalen Zwilling der Konstruktion, also der Soll-Geometrie, vergleichen. Damit lassen sich durchgängige Qualitätsprozesse generieren, die frühzeitig Fehler erkennen können. Wir arbeiten daran, solche Prozessschritte in der Software auch zu automatisieren, genau wie die Prozesse in der Fabrikhalle automatisiert werden. Darin steckt ein großer Hebel für die Wertschöpfung, mit einer starken Automatisierung als Mittel zum Zweck.

Welche Fortschritte macht die Automatisierung der Prozesskette?

Heuser: Hier muss man unterscheiden zwischen der Automatisierung der Software-Prozesskette und der Automatisierung der physischen Prozesskette in der Fabrikhalle. Wir haben mit unseren integrierten Lösungen den Vorteil, dass man einen gesamten Workflow durch Software-Schritte automatisieren kann. Es handelt sich quasi um eine Art Skript, das nur beim ersten Durchlauf der Kette angefertigt wird. Beim ständigen weiteren Durchlauf der Prozesskette können dann die Schritte automatisiert durchlaufen werden. Das spart sehr viel Aufwand und Zeit im Engineering und macht viele Anwendungen erst kosteneffizient. Die Software-Tools müssen quasi miteinander reden können, sonst funktioniert die Automatisierung nicht. Wir haben dies gerade erst auf der AMTC-Konferenz zusammen mit Siemens Energy für ein Metall-Laser-Pulverbett-Verfahren vorgestellt. Auch für andere Technologien wie das Metall-Binder-Jetting arbeiten wir bereits daran.

Sind technologisch Sprünge zu erwarten?

Heuser: Dazu muss man sich die Drucktechnologien anschauen. Letztlich geht es bei den Druckern darum, die Druckzeiten bei hoher Qualität und Robustheit zu minimieren. Manche Hersteller nutzen dafür zusätzlich bis zu zwölf Lasersysteme, andere verwenden Dioden-Arrays oder wieder andere entwickeln das im Druck erst einmal sehr schnelle Binder-Jetting-Verfahren, bei dem aber ein weiterer Sinterprozess notwendig wird und das Bauteil um bis zu 30 Prozent schrumpft. Auch gibt es immer wieder Firmen, die einen ganz neuen Ansatz finden. Ein Hersteller aus den USA beispielsweise hat einen Tintenstrahldrucker entwickelt, der flüssige Metalltropfen druckt. All diese Ansätze zeigen, dass wir technologisch beim Drucker selbst noch lange nicht am Ende sind. Der zweite große Bereich, in dem man technologische Sprünge sehen wird, betrifft die vor- und nachgelagerten Prozessschritte. Es kommt immer mehr auf die Folgeprozesse an – wie kühlt der Bauraum nach dem Druck ab, wann wird das Bauteil und wie automatisiert entpackt, wie schaffen wir es, dass kein Mitarbeiter mehr mit Pulver hantieren muss? In diesen Bereichen haben wir bereits viele Fortschritte erzielt. Beispielsweise hat Solukon die Entpulverung voll automatisiert mit einem intelligenten Algorithmus für Metallanwendungen oder das Start-up DyeMansion zur Oberflächenglättung und Färbung für Polymeranwendungen entwickelt. Die Folgeschritte sind zur Industrialisierung sehr wichtig, denn es hilft nichts, wenn man einen tollen Drucker besitzt, aber die Schritte hinterher nicht beherrscht. Da steckt auch einiges an Potenzial drin.

Wie entwickelt sich der Markt in den nächsten fünf Jahren?

Heuser: Ich denke, hierauf gibt es keine exakte Antwort, da wir mit immer mehr Schwankungen adaptiver und flexibler reagierende Märkte haben. Wir arbeiten mit Szenarien sowie Prognosen und werten natürlich auch diverse Marktberichte aus. Feststellen kann man auf jeden Fall, dass die additive Fertigung in den vergangenen anderthalb Jahren eher gestärkt als geschwächt wurde. Die resiliente Lieferkette mit der Vorortfertigung ist wieder in den Blick geraten. Wie schon erwähnt befeuert auch das Thema Nachhaltigkeit den Markt, auf der anderen Seite muss man realistisch bleiben, dass technologische Sprünge auch nicht über Nacht erfolgen. Zertifizierungs- und Ramp-up-Prozesse brauchen ihre Zeit. In dieser Balance wird sich ein gutes Marktwachstum zeigen. Insbesondere im Polymerbereich sehen wir ein starkes Wachstum nach der ersten Phase der Covid-19-Pandemie. Im Metallbereich gibt es bereits einige Serienanwendungen wie in der Luftfahrt oder in der Energietechnik, wenn auch mit flacherem Wachstum als in den Konsumanwendungen. Insgesamt ist additive Fertigung bei Siemens eines unter den am schnellsten wachsenden Geschäftsgebieten.

Wie fällt der Vergleich im Wettbewerb mit der Zerspanung aus?

Heuser: Wir sehen eine Ergänzung und eine Erweiterung der zerspanenden Technik, die neue Geometrien und Funktionen möglich macht. Damit kann man nicht unbedingt immer von einem Wettbewerb sprechen. Am Anfang steht das Bauteil, und die beste Fertigungstechnologie muss kosten- und ressourcenschonend für dieses Bauteil gewählt werden. Teilweise geht es darum, einen zerspanenden oder einen Spritzgussprozess zu ersetzen, wenn beispielsweise die Varianz der Bauteile in der Individualisierung oder die Funktionsoptimierung nur noch die additive Fertigung zulässt. Oft gibt es dann Folgeprozesse, wo eine Zerspanung zum Einsatz kommt. Wir sehen eine Koexistenz der Technologien, aber der heutige Vergleich der Anzahl von additiven Maschinen im Vergleich mit den zerspanenden Werkzeugmaschinen zeigt, dass es ein riesiges Potenzial für die additive Fertigung gibt. Allein Siemens Digital Industries hat heute etwa 250.000 Kunden weltweit, von denen viele noch ganz am Anfang oder auch noch vor dem Einsatz von additiver Fertigung stehen.

Was erwarten Sie für die Formnext?

Heuser: Ich war Ende September bei der EMO in Mailand, der Werkzeugmaschinenmesse. Im Vergleich mit den etwas weniger als 700 Ausstellern dort ist die Formnext mit mehr als 500 Ausstellern sehr gut aufgestellt und agiert praktisch auf Augenhöhe mit der EMO Mailand. Die 3D-Druckbranche ist von den Volumina her sicher noch nicht so groß wie eine EMO, aber es dürstet die gesamte Community danach, wieder in Begegnung zusammenzuarbeiten. Wenn man den Spirit der Formnext aus den letzten Jahren kennt, weiß man, dass die gesamte Branche die Industrialisierung massiv voranbringen möchte, und dies wird man auf der Messe spüren können. Ich erwarte ein deutliches Aufbruchssignal durch die enge Kooperation aller Partner in der Wertschöpfungskette. Allerdings wird es Interessierte geben, die nicht kommen können, aber auch dafür ist gesorgt. Mit einem Digital AM Summit, der im Rahmen der Formnext Digital Days am 30. November und 1. Dezember stattfinden wird. Deshalb sehen wir hohes Interesse und erwarten eine tolle Fachmesse, real und digital.

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Dr. Karsten Heuser

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